Von der „Coronisierung“ der demokratischen Rechte

Rotes Rathaus: Rot nur von außen? Bild: Olbertz/CC BY-SA-3.0

Die rot-rot-grüne Koalition von Berlin beschließt ein Versammlungsgesetz, das angeblich liberal ist, aber einem Freibrief für die Polizei gleichkommt.

 

„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Punkt. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ Punkt. Grundrechte in knapper Klarheit. Ein Satz, ein Postulat ohne Ausnahmen und Umwege.

Grundrecht No. 8 lautet: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Punkt. Eingestanden, für Versammlungen „unter freiem Himmel“ wird es dann doch etwas relativer, denn die können, wie es heißt, „durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes beschränkt“ werden.

Kann sein, dass den Grundrechteverfassern dämmerte, dass die Macht schließlich auf der Straße liegt, und man folglich bei ihrer Vergabe schon ein bisschen vorsichtig sein müsse. Dennoch: Ganze zwei Sätze für Artikel 8 des Grundgesetzes zur Versammlungsfreiheit.

Und nun das: 60 Seiten. So umfangreich ist das „Gesetz über die Versammlungsfreiheit im Land Berlin“, das die rot-rot-grüne Koalition Anfang Februar 2021 verabschiedet hat. Es sei „liberal“ heißt es aus dieser politischen Ecke. Eher ist es jedoch ein Freibrief für die Polizei, voll mit Grauzonen und unbestimmten Rechtsbegriffen, die der Willkür Vorschub leisten können.

Beginnen wir aber mit der Abteilung Komik. Denn eine Versammlung soll bereits ab zwei Personen Versammlung genannt werden und unter das Versammlungsfreiheitsgesetz fallen. Was daran der Fortschritt sein soll, erschließt sich nicht so richtig. Es sei denn, man gibt zwei Personen einen gesetzlichen Schutz, den man dem einzelnen Individuum verweigert. So, wie das in den Zeiten der Corona-Ausgangssperre Gang und Gäbe war, wenn Solo-Demonstrationswillige mit einem politischen Plakat um den Hals von der Polizei Platzverweis erhielten und nach Hause geschickt wurden, weshalb die einfallsreichen unter ihnen sich mit ihrem Plakat dann eben in die Käuferschlange vor dem Bäckerladen einreihten. Brötchen holen wurde als triftiger Grund akzeptiert, die Wohnung zu verlassen, seine Meinung kund zu tun, nicht.

Laut dem Berliner Gesetz gilt für Versammlungen ein Kooperationsgebot mit der Polizei, ein Störungsverbot oder ein Uniformverbot. Tatbestände, die Auslegungssache sind. Wer legt fest, was Kooperation ist und was nicht? Und was, wenn die Polizei nicht kooperieren will? Ist eine Gegendemo eine Störung? Oder erst eine Trillerpfeife? Ist der schwarze Block uniformiert? Oder sind es die weiß angezogenen Umweltschützer?

Der §14 regelt dann explizit „Beschränkungen, Verbot und Auflösung“ von Versammlungen. So kann beispielsweise eine Versammlung verboten werden, wenn die Gefahr bestehe, dass der öffentliche Friede gestört werde. Und zwar unter anderem dadurch, dass – Achtung, O-Ton! – „gegen eine nationale, durch rassistische Zuschreibung beschriebene, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe (…) zum Hass aufgestachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen aufgefordert oder die Menschenwürde anderer dadurch angegriffen wird, dass eine vorbezeichnete Gruppe (…) beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet wird“.

Was für eine Konstruktion. Und was für eine Ansammlung unbestimmter Begriffe, die allesamt Auslegungssache sind. Ist der öffentliche Friede gestört, wenn sich jemand über eine Demo aufregt? Haben Schwaben eine ethnische Herkunft? Sind Esoteriker religiös? Was ist Hass und was Polemik? Kann jemand, der nicht die Macht zu Willkür hat, überhaupt zu Willkürmaßnahmen auffordern? Was ist Beschimpfung und was Ironie? Gibt es neben böswilliger Verächtlichmachung auch eine lustige? Und so weiter und so fort.

Freibrief für die Polizei

Die Auslegung obliegt nun der Polizei, was sie vom Garanten einer Versammlung zum Richter über eine Versammlung macht. Die Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols bekommt einen nie da gewesenen Handlungsspielraum, um nicht zu sagen: einen Freibrief.

In dieser Weise geht es im Gesetz auch weiter. Eine verbotene Versammlung solle aufgelöst werden, heißt es. Alle Teilnehmer müssten sich entfernen, eine Ersatzversammlung – beispielsweise gegen die Auflösung – sei ebenfalls verboten.

Nach § 16 kann die „Anwesenheit von Personen untersagt“ werden, oder sie können „von der Versammlung ausgeschlossen“ werden. Auch das wird seit einem Jahr mittels des „Corona-Versammlungsrechtes“, das dem Infektionsschutzgesetz und der Virus-Eindämmungspolitik unterworfen ist, gegen Corona-Kritiker bereits praktiziert. Verschiedene Aktivisten werden immer wieder mit Platzverweisen belegt. Sie dürfen an Kundgebungen nicht teilnehmen.

Nach § 32 sind Demo-Einschränkungen möglich an bestimmten Orten und Plätzen, denen eine „Symbolkraft für die Erinnerung an die NS-Herrschaft“ zukomme. Die werden dann auch noch gleich festgelegt und aufgelistet: in Berlin 23 Stück, vom Denkmal für die ermordeten Juden, über das Deutsch-Russische Museum (!) in Karlshorst bis zum früheren SA-Gefängnis Papestraße.

Demo-Einschränkungen kann es darüber hinaus für bestimmte entsprechende Tage geben, die einen Bezug zur NS-Zeit haben: vier an der Zahl (27. Januar, 8. und 9. Mai, 9. November).

Das erscheint doch alles ziemlich willkürlich und selektiv, um nicht zu sagen: instrumentell, gerade in einer Stadt, in der es noch mehr und andere Beispiele für politische Unterdrückung und Menschenquälereien gab. Oder anders ausgedrückt: Würde man diese Ausschlussauswahl konsequent fortführen, gäbe es wohl kaum noch Plätze und Daten, an denen man demonstrieren könnte.

Beschränkungen für Versammlungen unter freiem Himmel gelten nun auch für Versammlungen in geschlossenen Räumen

Das vielleicht problematischste Kapitel im Berliner Versammlungsgesetz ist, was in Abschnitt 3 über „Versammlungen in geschlossenen Räumen“ formuliert wird.

Damit wird nämlich Absatz 2 von Artikel 8 des Grundgesetzes auf Absatz 1 ausgedehnt. Beschränkungen für Versammlungen unter freiem Himmel gelten nun auch für Versammlungen in geschlossenen Räumen. Siehe § 22: „Beschränkung, Verbot, Auflösung“.

Das ist nichts anderes, als eine Veränderung des Grundgesetzes. Es entspricht aber genau dem, was im vergangenen Corona-Jahr von der Polizei praktiziert wurde, wenn Versammlungen in geschlossenen Räumen aufgelöst wurden.

Die SPD-Linke-Grüne Regierung formuliert in gewisser Weise ein eigenes Grundgesetz, eine Art Corona-Grundgesetz, das die Praktiken des Corona-Rechtes nun legalisiert.

Dass die Berliner CDU das Gesetz kritisierte, weil es angeblich die Handlungsspielräume der Polizei einschränke, kann man als ihrer Oppositionsrolle im parlamentarischen Theater geschuldet sehen. Auch in anderen Bundesländern werden Versammlungsgesetze mit ganz ähnlicher Ausrichtung vorbereitet, so in Nordrhein-Westfalen durch die CDU-geführte Regierungskoalition mit der FDP. Darin finden sich viele Aspekte des Berliner Gesetzes.

„Problematik des ‚Gruppentanzens'“

Demokratische Rechte entfalten ihre Existenzberechtigung durch Inanspruchnahme. Jeden Tag findet zur Zeit irgendwo eine Versammlung zur Corona-Krise statt. Samstags führt die Berliner Querdenken-Gruppe auf dem Alexanderplatz eine Kundgebung durch. Allerdings ist sie mit immer neuen Auflagen und Einschränkungen seitens der polizeilichen Versammlungsbehörde konfrontiert, beispielsweise einer Beschränkung der Teilnehmerzahl auf etwa 100.

Das neueste ist ein Musikverbot. Es habe sich gezeigt, schreibt die Polizei dem Anmelder, dass die Teilnehmenden mit Beginn des Musikanteils in der zweiten Hälfte der Versammlungen „zu tanzen anfangen“. Dadurch würde der vorgegebene Mindestabstand größtenteils nicht eingehalten werden. Gegen diese „Problematik des ‚Gruppentanzens'“ werden deshalb „sämtliche musikalische Beiträge verboten“.

Journalisten sollen nicht mehr unabhängige Chronisten, sondern potentielle Komplizen der Polizei sein

Wie sehr sich die restriktiven und autoritären Corona-Maßstäbe in den Köpfen breit machen, zeigt sich last but not least auch an der institutionellen Presse selber. Im Laufe des Corona-Jahres mit dieser Vielzahl an umstrittenen, zugelassenen oder untersagten Demonstrationen hat der Deutsche Presserat neue Grundsätze für die Zusammenarbeit von Medien und Polizei formuliert. Darin findet sich folgende Passage: „Journalistinnen und Journalisten verpflichten sich, die Sicherheitskräfte nicht zu behindern und sich bei der Berichterstattung über polizeitaktische Maßnahmen mit der zuständigen Polizeiführung abzusprechen.“

Journalisten also nicht mehr unabhängige Chronisten, sondern potentielle Komplizen der Polizei. Die Trägerin des staatlichen Gewaltmonopols ist es, die noch mehr Rechte und Kompetenzen bekommt. Sie wird geradezu zum entscheidenden Player bei der Inanspruchnahme demokratischer Rechte.

Das manifestiert sich übrigens bereits durch die sogenannten „Bearbeitungsstraßen“, die die Polizei seit einiger Zeit am Rande von Corona-Demonstrationen aufbaut. Tische, an denen Beamte mit Laptops sitzen und wo Festgenommene registriert und bearbeitet werden. Polizeibüros im Freien sozusagen. Eine eigene Form der Machtdemonstration.

Alles in allem wird die real-existierende Demokratie verschoben hin zugunsten der Exekutive. Man könnte auch sagen: Es findet eine Coronisierung der politischen Rechte statt.

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3 Kommentare

  1. „dass eine vorbezeichnete Gruppe (…) beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet wird“.“
    ————————————–
    Genau das passierte übrigens, als die Teilnehmer des Schweigemarsches in Berlin-Schöneberg als Nazischweine beschrieen wurden.
    Dagegen gab es allerdings kein polizeiliches Einschreiten.

  2. „Coronisierung der politischen Rechte“? Dazu passend: In der Schweiz wurde gerade ein sog. Anti-Terror-Gesetz mittels Referendum vorläufig abgewendet.

    Kostprobe:
    Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT):
    „Als terroristische Aktivität gelten Bestrebungen zur Beeinflussung oder Veränderung der staatlichen Ordnung, die durch die Begehung oder Androhung von schweren Straftaten oder mit der Verbreitung von Furcht und Schrecken verwirklicht oder begünstigt werden sollen.“
    https://www.parlament.ch/centers/eparl/curia/2019/20190032/Schlussabstimmungstext%201%20SN%20D.pdf

    Amnesty International zitiert Kritik von UNO-MenschenrechtsexpertInnen:
    «Die Ausweitung der Definition von Terrorismus auf jede gewaltfreie Kampagne, die mit der Verbreitung von Angst verbunden ist, geht weit über das geltende innerstaatliche Recht der Schweiz hinaus und verstösst gegen internationale Standards», sagen sie. «Diese übermässig weit gefasste Definition schafft einen gefährlichen Präzedenzfall und birgt die Gefahr, dass sie als Modell für autoritäre Regierungen dient, die versuchen, politische Meinungsverschiedenheiten zu unterdrücken.»
    https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2020/antiterror-gesetz-aushoehlung-des-rechtsstaates

    Weitere Kritikpunkte von Rechts-Professor*Innen:
    – Repression ohne verfahrensrechtliche Garantien
    – Das Gesetz öffnet der Willkür Tür und Tor.
    – Unzureichende richterliche Kontrolle
    – Einführung einer Gefährlichkeitsvermutung
    – Unvereinbarkeit mit der EMRK
    – Aushebeln des Schutzes von Minderjährigen
    https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2020/antiterror-gesetz-aushoehlung-des-rechtsstaates/pmt-offener-brief.pdf

    Referendum:
    https://willkuerparagraph.ch/

  3. „Eine Versammlung kann insbesondere verboten, beschränkt oder nach deren Beginn aufgelöst werden, wenn […] eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder ein Einzelner wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet wird […].“

    Kurz: Darf gegen die Regierung oder einzelne ihrer Mitglieder überhaupt noch demonstriert werden??

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