Argentinien vor der zweiten Welle: Regierung hat keinen Plan

Bild: argentina.gob.ar

Im Land fehlt Impfstoff, jetzt erkrankte der zweimal mit Sputnik geimpfte Präsident an Covid-19, durch einen Impfskandal in der Regierung kippt die Stimmung.

 

Über Ostern waren die argentinischen Strände voll, aber nach Monaten der Entspannung fürchten jetzt Restaurants, Theater und Einzelhandel erneute Verbote. Aus allen Kanälen schallen Warnungen vor der „zweiten Welle“, Horrorszenarien werden an die Wand gemalt. Während im Nachbarland Chile geimpft wird, was das Zeug hält (mit zweifelhaftem Erfolg, da die Infektionszahlen trotzdem steigen), fehlt in Argentinien Impfstoff. Die Regierung hat keinen Plan, weder einen guten noch einen schlechten.

Und nun erkrankte Präsident Alberto Fernández an Covid 19 – obwohl ihm bereits vor Wochen zwei Mal Sputnik V gespritzt worden war. Was bringen diese Impfungen also, fragen viele Argentinier. „Sie verhindern keine Ansteckung, sondern schwächen nur schwere Krankheitsverläufe ab“, meint Elena Obieta von der Argentinischen Gesellschaft für Infektionskrankheiten (SADI). Immunisierte sollen weiterhin Maske tragen und auf Abstand . Es sei unklar, ob sie ansteckend seien.

Zu allem Unglück steht der Winter bevor, und wenn, was zu befürchten ist, der Politik nichts Besseres als ein erneuter Lockdown einfällt, wird die ohnehin gebeutelte Volkswirtschaft endgültig in den Abgrund getrieben. Schon heute liegt die Armut bei 42 %, viele hungern – in einem Land, dessen Landwirtschaft 450 Millionen Menschen – also das Zehnfache der Bevölkerung – ernähren könnte.

Argentinien war einmal ein Land, dessen Infrastruktur mit der von Europa und den USA zu vergleichen war. Drei naturwissenschaftliche Nobelpreise gingen dorthin: 1947 und 1984 für Medizin, 1970 für Chemie. Während Brasilien („Butanvac“) und Kuba („Soberana 02“) ein nationales Vakzin entwickelt haben, steht das Land am Rio de la Plata mit leeren Händen da. Schlimmer noch: Forschern wird der Zugang zur Hightech untersagt.

Der Biochemiker Dr. Juan Garberi wollte Proben von Patienten mit Covid-Symptomen untersuchen und beantragte den Zugang zum Elektronenmikroskop der Medizinischen Fakultät der Universität von Buenos Aires. Ohne Erfolg. Auch der konkrete Vorschlag seines Labors, großflächige Tests in der Vorstadt durchzuführen, fand kein Interesse. „Wir sehen die Symptome einer Lungenkrankheit, aber auf der Suche nach der Kausalität und dem Versuch, das Virus zu finden, werden wir behindert“, so Garberi.

Er warnt vor der medialen Panikmache. Laut der offiziellen Statistiken starben in den Vorjahren von 1000 Argentiniern zwischen 7,5 und 8 Menschen, 2020 waren dies sogar weniger. Eine Übersterblichkeit ist also nicht zu belegen. Auch die Zahl der Todesfälle mit Corona – 56.471 seit März 2020 – ist wenig alarmierend, wenn man die bereits erfolgte Durchseuchung berücksichtigt. Die Intensivstationen sind nicht überfüllt.

Pfizer, AstraZeneca und Sputnik

Die argentinische Regierung ließ viel Zeit verstreichen, um im Ausland Impfstoff einzukaufen. Präsident Fernández hatte bei Pfizer und Moderna angeklopft und sich am 10. Juli mit dem Pfizer-Generaldirektor Nicolás Vaquer zusammengesetzt. Das gab internen Ärger. Gesundheitsminister Ginés González García fühlte sich übergangen und witterte, dass das Geschäft an ihm vorbei gehen sollte. Da war er hocherfreut, dass 10 Tage nach dem Treffen in der Residenz „The Lancet“ dem Impfstoff der Konkurrenz von der Universität Oxford und AstraZeneca eine Wirksamkeit von 95 % bescheinigte.

Am 28. Juli legte Pfizer dem Gesundheitsminister seinen ersten Vorschlag vor, der sich für zuständig erklärt hatte. Seine Antwort war alles andere als freundlich. González Garcia favorisierte AstraZeneca und übertrug die Verhandlungen Sonia Tarragona, die zuvor Geschäftsbeziehungen zu AstraZeneca unterhalten hatte. Sie befand, dass AstraZeneca vorteilhafter sei: eine Dosis reiche aus, der Stoff sei billiger und einfacher zu handhaben.

Trotz schlechter Startbedingungen startete Pfizer ab August die Testphase III. 4500 Argentinier stellten sich freiwillig zur Verfügung – in der Hoffnung auf eine schnelle Immunisierung. Das autonome Nationale Amt für die Sicherheit von Lebensmitteln und Arzneien (ANMAT) ließ den Pfizer-Impfstoff überraschend schnell zu. Böse Zungen bezeichnen Anmat schon lange als einen „Lobbyverein von Big Pharma“.

Nun versprach AstraZeneca das Blaue vom Himmel. Präsident Fernández verkündete vollmundig, dass dieser Impfstoff im ersten Halbjahr 2021 in Mexiko und Argentinien für ganz Lateinamerika produziert würde. „Die Entscheidung fiel für AstraZeneca“, schrieb die Tageszeitung La Nación, „so sollte das Vaterland gerettet und alles gut werden.

Doch das Vaterland wurde nicht gerettet. Schon Anfang September berichtete Oxford von Nebenwirkungen bei den Testpersonen. Ein neuer Heilsbringer musste her – und er kam aus der Kälte: Sputnik V, das Wundermittel aus Moskau. Argentinien hatte ein halbes Jahr harte Quarantäne hinter sich, die Nerven lagen blank, man brauchte ein Ziel, um die Leute ruhig zu halten.

Die Pharma-Industrie diktierte die Bedingungen und bestand auf Geheimhaltung der Verträge und Freistellung von der Haftung für mögliche Schäden. Von Argentinien, dessen Zahlungsmoral angezweifelt wurde, wollte man sogar ein Gesetz und eine Garantie. Laut den empörten Äußerungen einiger Politiker sollten Fischereirechte und Bodenschätze als Bürgschaft eingesetzt werden. Die Opposition vermutete zudem, dass Pfizer nicht bereit war, die üblichen Bestechungsgelder zu entrichten und bat Pfizer um Aufklärung. Auf jeden Fall passierte am 7. Oktober das Gesetz das Abgeordnetenhaus, auch die Opposition stimmte dafür. Es gewährte den Unternehmen zwar keine Immunität, akzeptierte jedoch einen ausländischen Gerichtsstand.

Pfizer störte sich aber am Artikel 4 des Gesetzes, wonach zwar der argentinische Staat Ansprechpartner für Entschädigungen sei – ausgenommen in Fällen von „betrügerischem und böswilligem Verhalten und Fahrlässigkeit“ der Lieferanten. Sie fürchteten, in solchen Fällen vor argentinischen Gerichten zu landen. Die Türen gingen zu, und Buenos Aires setzte nun alle Hoffnungen auf Sputnik. Trotzdem behauptete Fernandez noch im November: „Im kommenden Monat werden wir 10 Millionen impfen können.“

Mitte Dezember kam es zwischen dem Gesundheitsminister und Pfizer endgültig zum Eklat – der Emailaustausch wurde von La Nación veröffentlicht. González García auf der Pressekonferenz: „Pfizer (USA) sagte uns, dass das Gesetz nicht ausreichend sei, ein neues Gesetz müsse her, und bestand darauf, dass der Vertrag nicht von mir, sondern vom Präsidenten unterzeichnet werden muss.“

Pfizer dementierte diese Darstellung nicht, schrieb aber am 28. Dezember an die Opposition, dass „die Bedingungen, die man von Argentinien verlangt habe, dieselben seien, die man allen anderen Ländern gestellt habe, welche diese akzeptiert hatten und seitdem beliefert werden“. An diesen Worten darf gezweifelt werden. Derzeit streitet sich Pfizer mit Israel, da das Heilige Land seine Rechnung nicht bezahlt habe, eine „Bananenrepublik“, schimpfte Pfizer. Offenbar war in diesem Fall auf die Hinterlegung einer Bürgschaft verzichtet worden.

In Argentinien kam der Januar, und trotz sommerlicher Temperaturen stieg die Ansteckungskurve weiter, während die Impfstoffe ausblieben. Um seinen Kopf zu retten, bat González Garcia den Präsidenten, den Artikel der „Fahrlässigkeit“ mit einem Notstands-Dekret außer Kraft zu setzen. Vergeblich.

Der Minister musste seinen Hut nehmen, offiziell wegen des Skandals „Vacuna Vip“. Es wurde bekannt, dass Freunden der Regierung und Gewerkschaftern im Hinterzimmer das Vakzin verabreicht worden war – während die normalen Bürger auf den Sanktnimmerleinstag vertröstet werden.

Die Stimmung kippt

Das „Vacuna Vip“ hatte selbst korruptionserfahrene Argentinier erbost. Viele alten Menschen sind derart verängstigt, dass sie seit März 2020 ihre Wohnung nicht verlassen haben. Und dann werden junge Leute geimpft, weil sie einen „amigo“ im Parteiapparat haben?

Die Regierung hat nun nächtliche Ausgangsbeschränkungen angekündigt, noch streiten sich die nationalen Behörden mit den Provinzen, vor allem mit der von einem rechten Parteienbündnis regierten Autonomen Stadt Buenos Aires. Und die Kneipenbesitzer haben öffentlich angekündigt, ihre Gäste weiter zu bedienen. Die angebotenen (minimalen) staatlichen Hilfen retten sie nicht vor dem Bankrott.

Längst haben die Argentinier zu individuellen Lösungen gegriffen. Sie greifen zu Hydroxychloroquin, einem Arzneistoff zur Vorbeugung von Malaria. Ein Richter genehmigte die Behandlung eines 92-Jährigen damit, obwohl Anmat es nicht zugelassen hat. Der Patient verstarb trotzdem. Besonderer Beliebtheit erfreut sich Ivermectin, das in der Tiermedizin für die Parasitenbekämpfung schon lange benutzt wird. 2015 gab es für seine Erfindung den Nobelpreis. Laut (WHO) sind die bisherigen Erkenntnisse zu Ivermectin für COVID-19-Patienten nicht schlüssig, es sollte daher nur in klinischen Studien verwendet werden. In Argentinien haben es mehrere Provinzen – nicht aber Anmat – zugelassen, und in Buenos Aires wird es sowohl in Kanistern (für Tiere) als auch als Pille (für Menschen) in den Apotheken verkauft.

Weitere Geheimtipps sind das Desinfektionsmittel Chlordioxid, das bei falscher Dosierung zu gravierenden Gesundheitsschäden führen kann, und das Rheumamittel Ibuprofen. Doch verlässliche Studien fehlen – weil nur der Impfstoff im Vordergrund steht und kein Medikament.

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