Die chinesische Großfamilie

Ob mütter- oder väterlicherseits, in Deutschland heißt es schlichtweg Onkel oder Tante. Das chinesische Verwandtschaftsvokabular dagegen ist eine Wissenschaft für sich. Ein Beitrag von Zhang Danhong*.

Mein Vater liegt im Sterben. Die Verwandtschaft kommt aus der ganzen Welt geflogen, um sich von ihm zu verabschieden. Da ich zuvor 31 Jahre in Deutschland verbracht habe, sehe ich einige Verwandte zum ersten Mal. Das betrifft grundsätzlich alle, die unter 31 sind. Zum Beispiel die hübsche Xiaoyu, Enkelin meiner Tante aus Taiyuan, der Provinzhauptstadt Shanxi. Meine Großeltern väterlicherseits hatten drei Kinder zu Hause: ein Mädchen und zwei Jungen. Für Deutschland klare Verhältnisse aus meiner Sicht: Opa, Oma, Tante, Onkel und Papa.

Bis auf „Papa“ ist in China nichts klar. Zwischen Großeltern wird hierzulande unterschieden: Großeltern väterlicherseits sind Yeye (Opa, 爷爷) und Nainai (Oma, 奶奶), Großeltern mütterlicherseits werden hingegen als Laoye (Opa, 姥爷) und Laolao (Oma, 姥姥) bezeichnet. Die ältere Schwester (Jiejie, 姐姐)meines Vaters nenne ich Gugu (Tante, 姑姑), eine der vielen Bezeichnungen, für die die deutsche Sprache nur pauschal das Wort „Tante“ bietet. Zum Glück hat mein Vater nur eine Schwester. Sonst hätte ich Dagu (große Tante, 大姑), Ergu (zweite Tante, 二姑) usw. Die jüngste Tante wäre aber nicht Xiaogu (kleine Tante, 小姑), sondern Laogu (alte Tante, 老姑). Warum auch immer!

Zu meinem doppelten Glück hat mein Vater auch nur einen älteren Bruder, für mich Dabai (ältester Onkel, 大伯). Sonst hätte ich noch weitere Wörter des Verwandtschaftsvokabulars im aktiven Gebrauch wie Erbai (zweiter Onkel, 二伯) oder Sanshu (三叔,dritter Onkel, wenn er jünger wäre als mein Vater, dann wäre er für mich ein „Shu“ statt „Bai“). Eigentlich habe ich das Wort Dabai auch nie in direkter Anrede verwendet, weil er bereits drei Jahre vor meiner Geburt das Zeitliche segnete. Doch in der Großfamilie lebt er weiter. Wenn Papa mir von seiner Kindheit berichtete, war oft die Rede von „Deinem Dabai“. Und für die Kinder meiner Gugu ist und bleibt mein Vater Erjiu (zweiter Onkel, 二舅). Brüder der Mutter sind also weder Bai noch Shu, sondern Jiu. Für den Ehemann meiner Gugu hat die chinesische Sprache einen Extra-Begriff im Angebot: Gufu (姑父, auf Deutsch auch „Onkel“, aber nicht irgendein Onkel, sondern der, der mit der Gugu liiert ist).

Die hübsche Xiaoyu ist die erste Tochter meines Erbiaoge (zweiter Cousin, 二表哥), des zweiten Kindes meiner Gugu und meines Gufu. Meine Gugu hat vier Kinder auf die Welt gebracht, in der entlarvenden Reihenfolge: Mädchen, Mädchen, Junge, Junge. Entlarvend deshalb, weil man den Gedankengang der Eltern so einfach rauslesen kann: In Altchina, einer Agrargesellschaft ohne Alterssicherung, waren Söhne überlebensnotwendige Arbeitskräfte als auch eine Art Rentenversicherung für die Eltern. Töchter hingegen können bei der Heirat eine gute Prämie für die Familie einbringen, aber danach sind sie nutzlos wie „weggeschüttetes Wasser“, wie ein altes chinesisches Sprichwort besagt. Dass meine Gugu und mein Gufu vor rund 60 Jahren dieser Einstellung nachhingen, ist mehr als nachvollziehbar. Der dritte Versuch brachte den ersehnten Erfolg. Dann wollten sie das Schicksal noch einmal herausfordern und das Glück war mit ihnen.

Also habe ich vier Cousinen und Cousins väterlicherseits, zwei Biaoge (Cousin, 表哥) und zwei Biaojie (Cousine, 表姐). „Biao“ bedeutet Oberfläche, was sprachlich eine Entfernung assoziiert. Hätte mein früh verstorbener Dabai Kinder hinterlassen, wären sie für mich Tangge (Cousin, 堂哥) oder Tangjie (Cousine, 堂姐). „Tang“ ist die Abkürzung von „Citang“ (祠堂), eine Art Annengedenkstätte. Dort fanden natürlich nur diejenigen Platz, die den Namen der Familie trugen. In diesem Fall die Brüder meines Vaters und dessen Kinder. Nicht aber meine verheiratete Gugu und deren Kinder, die den Namen meines Gufu übernommen haben. Zwar sind Biaoge und Tangge vom Verwandtschaftsgrad her gleichgestellt, doch suggerieren „Biao“ und „Tang“ unterschiedliche Wichtigkeiten für die Großfamilie. Heute spielen solche Präfixe kaum eine Rolle, sind aber weiter im aktiven Gebrauch und machen das chinesische Verwandtschaftsvokabular zu einer Wissenschaft für sich.

Zurück zu Xiaoyu, der Enkelin meiner Tante. Zwar habe ich sie zuvor nicht persönlich kennengelernt, doch von der Dramatik ihrer Frühgeburt und den Folgen für ihre Kindheit habe ich auch in Deutschland mitbekommen. Das Leben der einzelnen Mitglieder der Großfamilie war fester Bestandteil meiner Telefonate mit meiner Mutter. Unzählige Male betete ich als Atheistin in meiner Kölner Wohnung für das schöne, aber eigenwillige Mädchen, das es so eilig hatte, das Licht der Welt zu erblicken und dafür in den ersten Jahren immer wieder um ihr Leben rang. In solchen Fällen zeigt sich der chinesische Staat gnädig und erlaubte meinem Erbiaoge und meiner Erbiaosao (direkt übersetzt: zweite Schwägerin an der Oberfläche, 二表嫂), trotz der Ein-Kind-Politik noch ein Kind in die Welt zu setzen. Und eine Wonneproppe war das Ergebnis. Heute haben sie zwei wunderbare Mädchen, die die Eltern beide als Geschenk des Himmels ansehen. Und Xiaoyu hat die Nachwirkungen der Frühgeburt überwunden, ist kerngesund und erwartet nun selbst ihr erstes Kind. Für die ganze Kinderschar meiner Cousinen und Cousins sowie die fünf Kinder meines Bruders aus drei Ehen (Drillinge aus der zweiten Ehe, einfach lehrbuchhaft, wie man legal zu mehreren Kindern kommt, ohne gegen das Ein-Kind-Gesetz zu verstoßen), bin ich selber Gugu. Die Kindeskinder nennen mich Gulao (Tante-Oma, 姑姥).

Meinem kranken Papa habe ich ebenfalls zu verdanken, dass ich meine wunderbare Xiaoyi (kleine Tante, die jüngste Schwester meiner Mutter, 小姨), die kurz nach meiner Auswanderung nach Neuseeland ging, nach über 30 Jahre endlich wiedersah. Sie war meine Tante und doch intime Freundin zugleich, klärte mich auf in Sachen Pubertät und Sexualität, für die meine eigene Mutter zu viel Schamgefühl hatte – auch das war vor 40 Jahren völlig normal –, und stellte mir ihre Wohnung als Stundenhotel zur Verfügung für meine erste Liebesbeziehung. Die Wiedersehensfreude ist trotz des traurigen Anlasses riesig.

Ich denke, wenn eine Zivilisation an der Komplexität der Verwandtschaftsbeziehungen gemessen wird, dann wäre die chinesische unschlagbar. Das mag daran liegen, dass China jahrtausendelang eine sesshafte Agrargesellschaft war und die Großfamilie die wichtigste Stütze für das einzelne Leben darstellte. Wenn junge Menschen aus zwei benachbarten Dörfern einander heirateten, musste die verwandtschaftliche Ordnung eingehalten werden. Konfuzius hat vor 2.500 Jahren dafür Regeln aufgestellt, wer sich wem unterzuordnen hat. Als Faustregel gilt, dass Jüngere den Älteren den Vortritt geben und Frauen Männern gehorchen sollten. Theoretisch gehört das alles der Vergangenheit an, doch als Überbleibsel der Feudalgesellschaft existieren solche Wertvorstellungen vor allem auf dem Land weiter.

Für weite Teile der heutigen Gesellschaft ist aber die enge Bindung innerhalb der Großfamilie erhalten geblieben. Dafür gibt es ein altertümliches Sprichwort: Blut ist dickflüssiger als das Wasser.

 


*Zhang Danhong, geboren 1966 in Peking, studierte Germanistik an der Peking-Universität. 1988 folgte die Auswanderung nach Deutschland. Nach 30-jähriger Betriebszugehörigkeit kündigte sie Ende 2019 bei der Deutschen Welle. Dort war sie jahrelang stellvertretende Leiterin der China-Redaktion, bis sie 2008 Zielscheibe einer Kampagne wurde und im Zuge dessen ihrer leitenden Funktion enthoben wurde. Mittlerweile lebt sie als Publizistin in Peking.

 

 

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