Das Unbewusste von Geschichte

Paul Klee: Angelus Novus. Bild: Israel Museum/gemeinfrei

Psychologisch ist das Unbewusste ein Begriff, aber wie verhält es sich mit dem Verdrängten im kollektiven Geddächtnis?

Geschichtliche Ereignisse verändern sich  im historischen Gedächtnis des Kollektivs dermaßen, dass die Ideologie des Ereignisses sich des Ereignisses selbst bemächtigt und es verdrängt

Der neunte Aphorismus in Walter Benjamins Thesenschrift „Über den Begriff der Geschichte“ befasst sich bekanntlich mit dem von ihm als „Angelus Novus“ apostrophierten Engel der Geschichte. Mit aufgerissenen Augen, offenem Mund und ausgespannten Flügeln steht er vor uns, sein Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Benjamin schreibt: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“

Dass sich der Engel dabei als unfähig erweist, „die Toten [zu] wecken und das Zerschlagene zusammen[zu]fügen“, weil ein Sturm, der sich in seinen Flügeln verfangen hat, ihn nach vorne, mithin weg vom Trümmerhaufen der Vergangenheit treibt, mag zunächst unerörtert bleiben. Von Bedeutung für den hier anvisierten Zusammenhang ist hingegen die von Benjamin hervorgehobene Dichotomie zwischen dem Engel und uns, den Menschen: Was wir als eine Kette von äußerlich erkennbaren Begebenheiten und Ereignissen gewahren und entsprechend deuten, stellt sich dem Geschichtsengel als eine fortwährende Katastrophengeschichte dar, deren Mechanismen, Apparaturen und Strukturdeterminanten ihm, trotz seiner Unfähigkeit, sich ihrer zu bemächtigen, wohlbewusst sind – wäre es ihm gegeben, würde er das Zertrümmerte wieder zusammenfügen, reparieren. Uns, den Menschen, hingegen müssen sie normalerweise verborgen bleiben.

 

Reinhart Koselleck sprach einmal davon, dass ab einem gewissen Zeitpunkt jedes Geschichtsereignis zwangsläufig zur Geschichte wird. Diese Behauptung birgt einige Sinnschichten in sich, unter denen für die wohl bedeutendste die Einsicht erachtet werden darf, dass die zeitliche Distanz zum historischen Geschehen, welches nachmals als „Ereignis“ apostrophiert wird, aus Gründen der Veränderung seiner Rezeptions- und Einordnungsmodi eine Metamorphose im Status des Geschehenen bewirkt. Nicht nur verflüchtigt sich im Laufe der Zeit das emotionale Involvement am Ereignis, während unser Wissen über seinen Ablauf sich erweitert, mithin seine kognitive Bedeutung für uns bereichert, sondern früher oder später kodiert sich das Ereignis zu einem Konglomerat von Schlüsselbegriffen und ikonischen Bildern, ein Prozess, der dazu führt, dass eine ideologisierende Rezeption von Gewesenem nach und nach den Platz einstiger Erinnerung von geschichtlichen Details einnimmt.

Die Erscheinung des Ereignisses im historischen Gedächtnis des Kollektivs, welches es als seine „Vergangenheit“ bewahrt, verändert sich dermaßen, dass die Ideologie des Ereignisses sich des Ereignisses selbst bemächtigt, um sich von seinen Einzelheiten und Inhalten zunehmend loszulösen. Ein solcher Prozess ist letztlich unentrinnbar, denn der schiere Erinnerungsakt postiert den Erinnerungsgegenstand auf einer Zeitachse, in deren Wirkbereich die aktiven Erinnerungssubjekte fortwährend wechseln und neue, den Erinnerungskontext bestimmende gesellschaftliche, politische und kulturelle Umstände hinzukommen, womit sich auch die ereignisbezogenen Werte- und Ideologiekoordinaten von Grund auf verändern mögen.

In den letzten Jahrzehnten führte dies zu einer wirkmächtigen Wende in der Geschichtsforschung: Parallel zur fortschrittlichen Vertiefung der Geschichtsforschung entwickelte sich das kritisch-reflexive Denken über das Forschungswerk als solches. In einigen Fällen ließ man die historische Forschung nahezu vollends zugunsten des prinzipiellen Überdenkens ihrer theoretischen Grundannahmen, der Debatte über ihre ideologischen Dimensionen und sogar der Diskursivierung ihrer schieren Möglichkeit fallen. Nicht von ungefähr wird seit rund drei Jahrzehnten kaum noch die Französische Revolution selbst erforscht, sondern – wenn überhaupt – die Geschichte ihrer Geschichtsschreibung.

Zweifel an der wirklichen Möglichkeit authentischer Erinnerung

Und nicht nur die historiographische Erinnerung der Vergangenheit sieht sich dem tiefen Einfluss ihrer diskursiven Erörterung ausgesetzt, sondern auch das von Jan Assmann so genannte kulturelle bzw. kommunikative Gedächtnis. Im Kontext des Shoah-Gedenkens erhob sich der Zweifel über die Möglichkeit von Erinnerung und Deutung des Grauens schon kurz nach seiner historischen Manifestation.

Mit gutem Grund verleiteten die Monstrosität des welthistorischen Ereignisses, seine Ausmaße und präzedenzlose Einzigartigkeit Theodor Adorno zu seinem berühmten Diktum, nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, sei barbarisch. Mit einigem Recht durfte er bezweifeln, dass die Kultur, welche im zivilisatorischen Notstand gerade das verriet, was sie zu wahren versprochen hatte, eine wirkliche Erinnerung des Unsäglichen aus sich heraus hervorzubringen vermöge; sie selbst war ja zur Ideologie verkommen. Und selbst als Adorno seine rigorose Behauptung (teilweise) zurücknahm, hinterließ er den dumpf-leisen Zweifel an der wirklichen Möglichkeit authentischer Erinnerung.

Von anderer Warte und mit unterschiedlicher Ausrichtung gelangte der französische Filmemacher Claude Lanzmann in seinem bedeutenden Werk „Shoah“ zu einer ähnlichen Schlussfolgerung. Er verzichtete bewusst auf direkte (dokumentarische) Repräsentationen der Shoah zugunsten deren Rekonstruktion mittels der erinnernden Zeugenschaft ihrer Überlebenden, wodurch er mutatis mutandis die Repräsentation des Geschichtsereignisses und die Reflexion über den Erinnerungsakt und die ihm zugrundeliegenden Mechanismen zum Debattengegenstand erhob.

In seinem Film thematisiert Lanzmann das zu reflektierende Problem der Erinnerungsmechanismen nicht direkt und deklarativ. Es scheint indes, dass spätestens seit seinem Film diese komplexe Frage- und Problemstellung sowohl künstlerische und dokumentarische Werke, die sich mit historischer Erinnerung befassen, als auch den sie erörternden Diskurs (unterschwellig) begleiten, mithin bestimmen.

 

Nun hat sich aber die Shoah ereignet. Der vor den Augen des Geschichtsengels sich türmende Trümmerhaufen menschlicher Katastrophengeschichte ist real. Dass wir, die Menschen, ihn nicht gewahren bzw. beschränkt sind in unserer kognitiven Kapazität, uns seiner bewusst zu werden, darf uns nicht dazu verleiten, dies kognitive Defizit zum Maß realer Einschätzung von historischer Wirklichkeit zu erheben – vor allem hüte man sich davor, subjektive Ohnmacht zur wohlfühlig-narzisstischen Indifferenz verkommen zu lassen.

 

Denn dass wir beim Essen des Brötchens am Frühstückstisch uns der gesellschaftlichen Arbeit, der zahllosen Aktivitäten, des unermesslichen Einsatzes unterschiedlichster Fertigkeiten und all der vielen Produktionsstationen, deren es bedurfte, um das Brötchen „in die Welt zu bringen“, nicht bewusst sind, besagt mitnichten, dass diese höchst verzweigte und komplex vernetzte Gesamtheit sozialer, ökonomischer und kultureller Praktiken nicht vorhanden war/ist. Es besagt lediglich, dass wir gezwungen sind, sie zu verdrängen, wenn wir einen „geregelten“ Ablauf unseres Lebens wünschen. Wir wären gar nicht funktionsfähig, wenn wir uns all dessen bewusst wären, was es bedarf, um uns funktionsfähig werden zu lassen.

Vor allem aber sind wir offenbar gezwungen, beim Biss ins Frühstücksbrötchen den millionenfachen Hungertod in der Welt zu verdrängen, der umso schwerer aufs satte Frühstücksgewissen lasten müsste, als es nach heutigem Stand der Produktionsmittel einer globalisierten Weltwirtschaft objektiv keinen einzigen Hungertoten in der Welt mehr geben dürfte. Nicht von ungefähr stellt sich Benjamin den Geschichtsengel, der ja den gesamten historischen Wirkzusammenhang erblickt, mit entsetzt aufgerissenen Augen und zum Schreckensschrei geöffneten Mund vor. Im kollektiven Unbewussten der Geschichte gellt gleichsam der Aufschrei menschlicher Leiderfahrung.

Das Verdrängte im kollektiven Gedächtnis

Aber der Aufschrei vergellt auch leicht. Wie könnte man auch die Einsicht zulassen, dass das Schändliche der Zivilisationsgeschichte der eigenen Existenz verschwistert ist? Nietzsche wusste darum. In genialer aphoristischer Dichte schrieb er: „‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘, sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“

Diese – Freuds Verdrängungsbegriff vorausnehmende – Erkenntnis bezieht sich bei Nietzsche, der ja keine systematisch durchdachte Gesellschaftstheorie vorzuweisen hatte, noch auf den Einzelmenschen. Sie lässt sich aber (der Struktur der Aussage nach) durchaus auch auf den Verdrängungsmechanismus kollektiver Subjekte anwenden. Denn es geht ja um das, was der Stolz (also das narzisstische Selbstbild) als zum Selbst gehörig nicht zulassen kann und daher in die Sphäre des Unbewussten verweisen muss. Bei Freud gibt es dafür die psychische Instanz des Unbewussten, mithin das „Es“ als Sammelort von Verdrängtem.

Die Sozialwissenschaft spricht zwar (seit Maurice Halbwachs) von kollektivem Gedächtnis, tut sich aber schwieriger mit der Konzeptualisierung dessen, was als das Unbewusste von Gesellschaft zu begreifen wäre. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass gängige Sozialwissenschaft sich stets auf Empirisches berufen muss, selbst da, wo sie nicht vulgär positivistisch vorgeht. Wie aber ließe sich das, was sich seinem Wesen nach dem Bewussten entschlägt, nach empirischer Maßgabe darlegen?

Wofür die Psychologie ein Paradigma des kommunikativen Herantastens ans Unbewusste zu schaffen vermochte, hat die Soziologie im Bereich des Kollektiven nichts anzubieten, was nicht a priori auf die Suggestivkraft der unhintergehbaren Grundannahme basiert, dass historisch real Geschehenes „irgendwohin“ muss, wenn es von den Protagonisten des Geschehenen abgewiesen, mithin nicht in den kognitiven Bereich des kollektiven Gedächtnisses zugelassen wird. So unabweisbar eine solche Grundannahme erscheint, räumt sie freilich die Gefahr des mit ihr einhergehenden möglichen Zirkelschlusses nicht vollkommen aus.

 

Es ist nun in diesem Zusammenhang, dass Benjamin am Anfang der fünften seiner Geschichtsthesen schreibt:

„Das wahre Bild der Vergangenheit huscht vorbei. Nur als Bild, das auf Nimmerwiedersehen im Augenblick seiner Erkennbarkeit eben aufblitzt, ist die Vergangenheit festzuhalten.“

Er beendet diesen bedeutungsreichen Aphorismus mit den Worten: „[…] es ist ein unwiederbringliches Bild der Vergangenheit, das mit jeder Gegenwart zu verschwinden droht, die sich nicht als in ihm gemeint erkannte.“

Zweierlei zeigt Benjamin hier an: Zum einen das Vorbeihuschende der Erinnerung dessen, was wir als wahre Vergangenheit bzw. ihr Bild (denn nur dieses vermögen wir im kurzen Aufblitzen zu erheischen) einzig bezeichnen dürfen; womit nicht nur die Heraklitische Einsicht, dass man nie zweimal in denselben Fluss steigt, indiziert wäre, sondern auch unser beschränktes Vermögen, dies Wahre als das authentische Bild zu wahren, sobald wir es durchs Erkennen auch schon wieder (begrifflich) verdinglichen. Zum anderen aber auch, dass die Gegenwart, welche den Verrat an der Vergangenheit begangen hat, stets geneigt sein wird, das wahre Bild dieser Vergangenheit zum Verschwinden zu bringen.

Das hat viel damit zu tun, dass die Geschichte (im Sinne des Grundkonsenses übers Vergangene) stets von ihren Siegern diktiert wird, aber nicht zuletzt auch damit, dass der Verrat am Vergangenen für den Geschichtserinnernden unerträglich sein muss. Verdrängen heißt, so besehen, nicht nur ideologischer Verzeichnung von Gewesenem Beihilfe leisten, sondern fungiert auch als narzisstische Selbstsetzung und homogenisierende Identitätsbildung, mithin als das Falsche im Wahren.

Naturgedenken

Im kritischen Denken der Frankfurter Schule taucht die Vorstellung von Kunst als Moment von Naturgedenken auf, mithin der Bezug der ästhetischen Erfahrung zu solchem Gedenken. Nicht von ungefähr formulierte Benjamin die Definition der von ihm im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit des Kunstwerks als dem Verfall ausgeliefert ausgemachten Aura gerade im Kontext von „natürlichen Gegenständen“. Die Aura dieser Gegenstände definiert sich für ihn „als einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, um dann wie folgt veranschaulicht zu werden:

„An einem Sommernachmittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Ruhenden wirft – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“

Das Echte am Naturzustand, welches sich durch zivilisatorische Entfremdung hindurch gleichwohl nur noch als eine bei aller Nähe als Ferne aufscheinende Aura erhalten kann, ist das, was das authentische Kunstwerk vor der über es eingebrochenen technischen Reproduzierbarkeit noch zu wahren vermag.

Die Autonomie des Kunstwerks im Sinne der Insistenz auf eine Wahrung der inneren, aller heteronomen Einflussnahme resistenten Logik der Materialanordnung und der spezifisch bestimmten Komposition des Verhältnisses von Gegenstand und Darstellung, von Form und Inhalt, kann, so besehen, als die kulturell vermittelte Form von Naturgedenken bzw. eines Gedenkens an das, was die zivilisatorische, durch die vom Menschen notwendig praktizierte Naturbeherrschung bedingte Entfremdung von der Natur unwiederbringlich verloren gegangen ist, begriffen werden.

Das will indes wohlverstanden sein: Es handelt sich hier mitnichten um eine wie immer verstandene – womöglich „Rückkehr“ postulierende – „Sehnsucht“ nach einem authentischen Ursprung, einem attavistisch-archaischen Eigentlichen. Naturgedenken versteht sich hier vielmehr als kulturelle Beleuchtung wesenhafter, zivilisatorisch entstandener und historisch perpetuierter Herrschaftsverhältnisse, die zwar in der Naturbeherrschung ihren Ursprung haben, aber in dessen Folge auch unweigerlich in die Herrschaft des Menschen über seinesgleichen münden mussten.

 

Das ist es, was dem Bewusstsein der Menschen abhandengekommen ist, und was Kunst in ihren großen Momenten, besonders wenn sie Leiderfahrung beredt werden lässt, in sich eingekehrt, nachgerade autistisch wahrt. Das ist es auch, was den Engel der Geschichte entsetzt: die Katastrophengeschichte der Menschheit als ein sich vor ihm türmender Trümmerhaufen. Die aufgerissenen Augen des Engels, sein zum Schrei geöffneter Mund sind gestischer Ausdruck für das, was den Menschen im Alltag gemeinhin verborgen bleibt, vielleicht verborgen bleiben muss: die Wirklichkeit dessen, wofür sie sich im Stande der Unfreiheit blind machen – das Unbewusste von Geschichte.

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