Die Freiheit des Beamten

Über das Wesen der Verbeamtung hat Goethe in leiser Ironie geschrieben:

Und wie ein jeder wird zuletzt,
Wenn man ihn hat in ein Amt gesetzt.
War er vorher wie ein Ameis krabblig
Und wie ein Schlänglein schnell und zabblig,
Wird er hernach in Mantel und Kragen
In seinem Sessel sich wohl behagen.“

und deutlich sarkastischer wird über das Beamtendasein im Volksgut gedichtet – so etwa in der Beamtenweihnacht:

Der Gabentisch ist öd und leer,
Die Kinder blicken blöd umher.
Da lässt der Vater einen krachen,
Die Kinder fangen an zu lachen.
So kann man auch mit kleinen Sachen
Beamtenkindern eine Freude machen.“

Goethe bezieht sich in seinem Gedicht auf das, was heutzutage als Festanstellung ersehnt wird: die verbeamtete Existenzsicherung im bürgerlichen Dasein. Diese staatlich garantierte Sicherheit ist freilich unter Schranken und Begrenzungen erkauft. Wohlstand verspricht sie nicht, wie sich den volkstümlichen Verszeilen entnehmen lässt – es sei denn, man macht sich der Korruption schuldig, welche zumeist in der Beamtensphäre auftaucht, wenn der Wille zur Selbstbereicherung die berufsethische Treue zu Gesetz und Vorschrift übersteigt. Das – so ist zu hoffen – ist aber eher die Ausnahme. Trotz eventuell frustrierender Monotonie des Beamtenberufs lässt sich die gesamte Berufssparte auf keinen Fall pauschal kriminalisieren. Die Institution mag im Gesamtsystem korrumpiert sein, woran aber der Platzhalter der beamtlichen Funktion in ihr subjektiv keine Schuld trägt. Angemerkt sei indes, dass es für das Ungemach der beamtlichen Entfremdung auch alternative Kompensationswege gibt, wie bereits vor Jahrzehnten von kritischen Kulturbeobachtern registriert worden ist.

Im Jahre 1929 notierte Siegfried Kracauer: „Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und dennoch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern.“ Zwischen beidem besteht ein Kausalnexus: Die Bewunderung, die die Angestellten für die Sitten der Primitiven hegen, ist mit der Anonymität ihrer Lebensroutine in der Gesellschaft der „einsamen Masse“ verschwistert. Eine Dialektik der bürgerlichen Gesellschaft schlägt sich darin nieder: Je überwachter sich das Leben der Bürger zeigte, das den Apparaten der „total verwalteten Welt“ unterworfen wurde, je mehr die statische Normalität ihres Daseins zur grauen Seelenöde gerann, desto nachdrücklicher drängte in ihnen das Verlangen, vorgegebene „Rahmen“ zu sprengen, der melancholischen Wohlanständigkeit ihrer gleichtönigen Existenz zu entrinnen. Zugleich verhinderten sie aber von vornherein jede mögliche Erfüllung dieses Verlangens und begnügten sich mit seiner kulturellen Sublimation: manchmal als philosophisches Pathos eines umfassenden Ekels vor der Zivilisation und einer romantischen Sehnsucht nach Rückkehr zur Natur, manchmal als Mystifizierung des „edlen Wilden“, zuweilen auch als Projektion ihrer geheimen Wünsche auf die Exotik der Perlenfischer und auf die Wildheit von Carmen, sehr oft aber auch als erregte Bewunderung der natürlichen Freiheit eines „primitiven Lebens“, wie sie ihnen in Hollywood-Filmen und den Cabarets von Paris und Berlin vorgegaukelt wurde. Nichts erklärt den Erfolg der gestalteten Exotik einer Josephine Baker und einer Carmen Miranda besser als das grau-öde Leben der Angestellten in der „einsamen Masse“ der modernen Metropole.

Mit folgenden Zeilen beginnt ein von Kurt Tucholsky im Jahre 1920 verfasster, Die Tür betitelter kurzer Zeitungstext: 

Mein Postamt hat zwei Türen, zwei kleine, braune Türen. Wenn du eine Weile vor diesem Postamt stehst, so siehst du folgendes: Viele Leute gehen auf die linke Tür zu, rütteln an ihr, geben sie missmutig auf und schlurchen durch die andere. Eine ist immer zu. Warum? Weil, spricht der Weise, der Beamte, der morgens die Türen aufschließen darf, wenigstens einmal in seinem Leben ‚regieren‘ muss. Weil er dem Publikum seinen Willen aufzwingen muss. Weil das Amt zeigen muss, dass es auch noch auf der Welt ist. Weil das Postamt nicht dazu da ist, damit wir unsere Briefe und Postanweisungen aufgeben, sondern damit die Beamten regieren können.“

Über den rügenden Beschwerdeton hinaus, der dieser Beschreibung des dysfunktionalen Postamts einwohnt – ein Ton, der von einem prononciert deutschen Erwartungshorizont im Hinblick auf das geschmierte Funktionieren öffentlicher Ämter herrührt (nur schwerlich wäre zum Beispiel eine solche Beschwerde aus der Feder eines italienischen Autors mit Bezug auf italienische Zustände denkbar) –, schafft es Tucholsky in dieser kurzen Passage, einen zentralen Aspekt des autoritären Charakters zu beschreiben. Die seelische Abhängigkeit von der Autorität – im speziellen Fall des (deutschen) Beamten – findet ihren Ausdruck in seiner freiwilligen Unterordnung unter die Hierarchie bürokratischer Gebilde, mithin in einer „Karriere“, welche ihn zwangsläufig in eine winzige Schraube im Getriebe verwandelt, ihm zugleich aber auch die Möglichkeit bietet, kraft seiner devot-gehorsamen Funktion, andere zu „regieren“. Er sei der erste Diener seines Staates, proklamierte Friedrich der Große, womit er Aufgeklärtes meinte und doch – absolutistischer Herrscher, der er noch war – das Ethos der modernen Bürokratie (vor)formulierte. Das psychische Bedürfnis, das im autoritären (beamtlichen) Charakter pulsiert, und die Struktur seiner Beschäftigung sind komplementär verschwistert: „Der Beamte“ wird stets den von seinen Oberen an ihn dirigierten Anordnungen Folge leisten, zugleich aber auch dafür sorgen, den Druck dieser „von oben“ kommenden Last durch obödient-sadistische Weiterleitung der Verordnungen „nach unten“ abzubauen. Dabei wird er zumeist „Regierungs“-Bereiche für sich selbst herstellen, in denen er wenigstens einmal in seinem Leben als absolutistischer Herrscher fungieren oder sich zumindest als ein solcher fühlen kann. In extremen historischen Fällen drückte sich die „autonome“ Sphäre solch beamtlicher Freiheit in den Praktiken einer nahtlos funktionierenden Administration in den Konzentrationslagern aus. Es bedurfte dazu für gewöhnlich nur einer kleinen, braunen Tür.

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