Afghanistan: Pentagon entwickelt nach Abzug der Truppen ein neues Konzept des Fernkriegs

Bild: DoD

Die Amerikaner ziehen sich aus Afghanistan zurück, wollen aber mit „over the horizon“-Angriffskapazitäten weiterhin militärisch intervenieren.

 

Während die US-Truppen und auch die übrigen Nato-Verbände nach der Entscheidung des US-Präsidenten Joe Biden bis zum symbolträchtigen 11.9. spätestens abgezogen sein sollen, rücken in manchen Regionen bereits die Taliban vor und sichern sich die Kontrolle über weitere Regionen. 20 Jahre nach Beginn des Krieges scheint der militärische Einsatz nur einen Aufschub bis zur Wiederkehr einer womöglich etwas veränderten Taliban-Herrschaft geleistet zu haben. Die Taliban haben schon einmal weitere Friedensgespräche ausgesetzt, bis alle ausländischen Truppen das Land verlassen haben, weitere 7000 Gefangene freigelassen werden, die UN-Sanktionen fallen und sie als legitime Regierung anerkannt werden.

Dazu kommt, dass in Afghanistan auch al-Qaida weiter präsent ist, dazu kommt Gruppen des Islamischen Staats, das Haqqani-Netzwerk, das ein Teil der Taliban ist, und andere extremistische Gruppen. Um die 8000-10000 „ausländische Terrorkämpfer“ sind nach einem Bericht für den UN-Sicherheitsrat im Land, aus Pakistan, der russischen Kaukasus-Region und der chinesischen Uiguren-Region Xinjiang. Die meisten seien mit den Taliban verbunden, manche mit al-Qaida und auch dem IS. Die Taliban versuchen, die ausländischen Kämpfer streng einzubinden. Die Taliban sollen über bis zu 100.000 Kämpfer verfügen und 50-70 Prozent des Landes außerhalb der Städte kontrollieren, fast 60 Prozent der Verwaltungszentren der Distrikte werden von ihnen beherrscht. Sie verfügen daher auch über finanzielle Mittel, durch Opiumanbau und Drogenhandel, aber auch durch erhobene Steuern und vermehrt durch den Verkauf von Bodenschätzen, die in Bergwerken gewonnen werden.

Ob die aufgebaute Regierung sowie das Militär und die Polizei die Taliban und manche Warlords und Oligarchen daran hindern können, die Herrschaft wieder zu übernehmen und einen islamistischen Staat zu errichten, ist fraglich. Die Personalstärke des afghanischen Militärsschrumpft, es finden sich nicht genügend Rekruten. Kaum fraglich ist hingegen, dass eine vorwiegend militärische Verteidigung Deutschlands, der Nato und der USA am Hindukusch angesichts der vielen Toten und Verletzten, der verheerenden wirtschaftlichen Situation, des korrupten staatlichen Systems und der großen Zahl der Menschen, die aus dem Land geflohen sind und fliehen wollen, gescheitert ist. Ähnliches zeichnet sich in Mali ab und ist in Syrien und im Irak auch der Fall. Somalia ist das mahnende Beispiel nach dem Ende des Kalten Kriegs dafür, dass militärische Interventionen, auch wenn sie humanitäre sein sollen, zumindest den Menschen in den betroffenen Ländern nicht helfen, sondern failed states hinterlassen.

In Afghanistan findet nun eine Version des Kriegs statt. Die Nato-Truppen werden zwar abgezogen, aber zumindest die Amerikaner werden weiterhin einen Fernkrieg führen. Es ist klar, dass die afghanischen Sicherheitskräfte kaum langfristig den Taliban Widerstand leisten können, wenn die Unterstützung aus der Luft durch Drohnen und Kampfflugzeuge ausbleibt, die in den letzten Jahren schon immer mehr ausgebaut wurde und auch zahlreiche Opfer unter Zivilisten verursachte. Nach der UN-Mission Unama wurden im ersten Vierteljahr bereits 29 Prozent mehr Zivilisten getötet und verletzt als im selben Zeitraum 2020. Insbesondere ist der Anteil der Frauen und Kinder gestiegen. Verantwortlich sind Taliban und Regierungstruppen, aber auch Luftschläge und „gezielte Tötungen“.

 

Zwischen 2016 und 2020 wurden fast 4000 Zivilisten durch Luftangriffe getötet und verletzt, 40 Prozent der Opfer und 37 Prozent der Getöteten waren Kinder. 62 Prozent der getöteten und verletzten Zivilisten waren Opfer der „internationalen Streitkräfte“. Die Opfer der „internationalen Luftschläge“ haben sich von 2017 bis 2019 verdreifacht.

Während man im Pentagon überlegt, dass afghanische Soldaten und Spezialeinheiten im Ausland ausgebildet werden könnten, wurde bereits die Hälfte der US-Soldaten abgezogen. Auch die Nato will die weitere Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte im Ausland organisieren. Aber wer denkt, mit dem Abzug wäre das US-Militär nicht mehr präsent in Afghanistan, übersieht, dass man inzwischen keine Bodentruppen und Stützpunkte in einem Land mehr benötigt, um militärisch eingreifen zu können.

 

John Roth, der amtierende Staatssekretär für die US-Luftwaffe, erklärte den Senatoren in einem für Militärausgaben zuständigen Unterausschuss, dass die USA ihre Interessen in Afghanistan nach dem Abzug von Stützpunkten in der Region verteidigen und Antiterroroperationen durchführen werden. Das werde mit „over the horizont“-Angriffskapazitäten geschehen, also mit Angriffen aus der Ferne. Die könnten auch global geschehen, durch einen „global strike“ mit Langstreckenraketen, Bombern, Long-Range Standoff Weapon (LRSO) oder Hyperschallwaffen innerhalb von 24 Stunden:

„We can see, sense, and strike targets near and far, and provide global warning, networks, and independent options in space. We provide global strike and effects that can hold any target at risk within 24 hours—this is not conceptual or theoretical, it is reality.“

Die US-Luftwaffe fordert 10 Milliarden US-Dollar, um die militärische Präsenz in Afghanistan durch Stützpunkte im Nahen Osten wie in Katar oder Kuwait  aufrechtzuerhalten. Kathleen Hicks, die Vizeverteidigungsministerin, versicherte, die „over the horizont“-Angriffskapazitäten würden nicht die Präsenz in Afghanistan ersetzen, aber sie würden sicherstellen, dass die USA wie anderswo auf der Welt  „ausreichende strategische Warnung und Fähigkeiten haben, um Gefahren zu verhindern, die Amerikaner erreichen, die Zuhause sind“.

Das ist ein wenig verwirrend gesagt, soll aber wohl bedeuten, dass die USA überall zuschlagen wollen, wo sie ihre Interessen bedroht sehen. Bezogen auf Afghanistan wurden mehr Langstreckenbomber in Katar stationiert und bleibt der Flugzeugträger USS Eisenhower in der Region. Weitere Luftwaffenstützpunkte gibt es in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in Kuwait. Denkbar wäre auch eine Zusammenarbeit mit Turkmenistan, Usbekistan oder Tadschikistan.

Aber im Prinzip ist es egal bzw. abhängig von der Waffentechnik, von woher „over the horizont“- oder „deep strike“-Angriffe durchgeführt werden, das Konzept, das in Afghanistan ausprobiert werden könnte, sind militärische Eingriffe über längere Zeit, die einen Gegner schwächen und eine lokale Macht stärken können. Die US-Army hat das Artilleriesystem Long Range Hypersonic Weapon (LRHW) entwickelt, das ab 2023 auf dem Boden und auf Kriegsschiffen eingesetzt werden soll. Ein Sprecher der Army sagte vor kurzem erstmals erstmals, die Reichweite der mit Mach-5 fliegenden Hyperschallraketen würde mindestens 2775 km betragen (Deep Strike mit Hyperschallraketen von einem mobilen Artillerieraketensystem).

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