Sachbücher des Monats: Januar 2021

Die Top Ten unter den Sachbüchern nebst einer persönlichen Empfehlung. Jeden Monat neu präsentiert von der Neuen Zürcher Zeitung, der Literarischen Welt und dem ORF-Radio Österreich 1.

1. Axel Schildt: Medien-Intellektuelle in der Bundesrepublik

Axel Schildt entfaltet ein Tableau der um Einfluss und um die kulturelle und politische Gestalt der Bundesrepublik kämpfenden Intellektuellen. Sie saßen in Redaktionen, gründeten neue Zeitschriften, bestimmten maßgeblich die Abendprogramme der Radioanstalten und die aktuellen Buchreihen der Verlage. Auch Illustrierte und Fernsehstudios nutzten sie, um meinungsbildend zu wirken. Axel Schildt hat etwa hundert Nachlässe sowie Archive von Redaktionen und Akademien ausgewertet und zeichnet so auf einer völlig neuen Materialgrundlage die Debatten, Verbindungen, medialen Praktiken sowie die Resonanz der westdeutschen Intellektuellen zwischen 1945 und 1968 nach.

Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Gabriele Kandzora und Detlef Siegfried. Wallstein Verlag, 896 Seiten, € 46,00

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2. Michael Maar: Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis großer Literatur

Was ist das Geheimnis des guten Stils, wie wird aus Sprache Literatur? Was ist Manier, was ist Jargon, und in welche Fehlerfallen tappen fast alle? Wie müssen die Elementarteilchen zusammenspielen für den perfekten Prosasatz? Maar zeigt, wer Dialoge kann und wer nicht, warum Hölderlin über- und Rahel Varnhagen unterschätzt wird, warum ohne die österreichischen Juden ein Kontinent des Stils wegbräche, warum Kafka ein Alien ist und warum nur Heimito von Doderer an Thomas Mann heranreicht. In fünfzig Porträts, von Goethe bis Gernhardt, von Kleist bis Kronauer, entfaltet er en passant eine Geschichte der deutschen Literatur.

Rowohlt Verlag, 656 Seiten, € 34,00

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3. Christopher Clark: Gefangene der Zeit. Geschichte und Zeitlichkeit von Nebukadnezar bis Donald Trump

Was hat der Brexit mit Bismarck zu tun? Was verbindet die antike Alexanderschlacht bei Issus mit der Schlacht gegen Napoleon bei Jena 1806? Was lehren uns Psychogramme aus dem Dritten Reich über Gehorsam und Courage? Und wie lässt sich Weltgeschichte schreiben, ohne dabei dem Eurozentrismus verhaftet zu bleiben? In dreizehn Essays zeigt Christopher Clark, wie sehr historische Ereignisse und Taten, Vorstellungen von Macht und Herrschaft über die Zeiten hinweg fortwirken – bis heute.

Deutsche Verlags-Anstalt (DVA), 336 Seiten, € 26,00

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4. Josef H. Reichholf: Der Hund und sein Mensch. Wie der Wolf sich und uns domestizierte

Einst lebte er frei wie der Wolf. Und er war Wolf. Irgendwann jedoch näherte er sich den Menschen. Zehntausend Generationen später war er Hund – und ein besonderes Lebewesen, das uns zum Spiegel wurde. Josef Reichholf widmet sich einer der ältesten Beziehungen der Menschheitsgeschichte, die immerhin fast zehn Millionen Haushalte in Deutschland kennen. Dafür verbindet er persönliche Geschichten mit aktueller Forschung zur Biologie und zur Evolution des Hundes.

Carl Hanser Verlag, 224 Seiten, € 22,00

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5. Wilhelm Heitmeyer/Manuela Freiheit/Peter Sitzer: Rechte Bedrohungsallianzen. Signaturen der Bedrohung II

Nach Ereignissen wie dem Mord an Walter Lübcke, dem Anschlag in Halle oder den rassistischen Morden in Hanau im Februar 2020 wird regelmäßig darüber diskutiert, inwiefern es sich um isolierte Einzeltäter handelt oder ob ein Zusammenhang zu bestimmten Parteien und Ideologien besteht. Wilhelm Heitmeyer hat dazu bereits 2012 das Modell eines konzentrischen Eskalationskontinuums präsentiert: Ganz außen stehen menschenfeindliche Einstellungen in der Bevölkerung, im Zentrum terroristische Zellen, dazwischen organisierte Akteure, „Vordenker“, systemfeindliche Milieus und Unterstützernetzwerke. Die Gewaltbereitschaft nimmt von außen nach innen zu, die jeweils äußere Schicht liefert ihrer inneren Nachbarin Legitimation.

Suhrkamp Verlag (es), 325 Seiten, € 18,00

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6. Marcia Bjornerud: Zeitbewusstheit. Geologisches Denken und wie es helfen könnte, die Welt zu retten

In „Zeitbewusstheit“ zeigt Marcia Bjornerud, wie die Geologie als Biografin unseres Heimatplaneten anhand der Messungen von Erosion und Gebirgsbildung, aber auch von Ozean- und Atmosphärenveränderungen ein Verständnis für die Tiefenzeit und den Rhythmus der Erde bereithält, das wir in unserer Epoche der Beschleunigung dringend brauchen, wenn wir Lösungen für die drohende Umweltkatastrophe finden wollen. Die Lebensdauer der Erde mag im Vergleich zu der eines Menschen ewig erscheinen, doch zur Sicherung des Überlebens beider bleibt uns in Wirklichkeit nur wenig Zeit.

Verlag Matthes & Seitz, 245 Seiten, € 28,00

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7. Eva von Redecker: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen

In Zeiten der Krise entzündet sich politisches Engagement. Protestbewegungen wie Black Lives Matter, Fridays for Future und NiUnaMenos kämpfen derzeit weltweit gegen Rassismus, Klimakatastrophe und Gewalt gegen Frauen. So unterschiedlich sie scheinen mögen, verfolgen diese Widerstandskräfte doch ein gemeinsames Ziel: die Rettung von Leben. Im Kern richtet sich ihr Kampf gegen den Kapitalismus, der unsere Lebensgrundlagen zerstört, indem er im Namen von Profit und Eigentum lebendige Natur in toten Stoff verwandelt: Klimaveränderungen und einer globalen Pandemie zeigt er seine verheerendsten Seiten.

Fischer Verlag, 316 Seiten, € 23,00

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8. Christoph Möllers: Freiheitsgrade. Elemente einer liberalen politischen Mechanik

Bei seinem Versuch, den Liberalismus auf die Höhe der Zeit zu bringen, geht Christoph Möllers weder von der politischen Großwetterlage aus noch vom Gegensatz zwischen Individuum und Gemeinschaft. Vielmehr versucht er, Formen einer Ordnung herauszupräparieren, die Bewegungsfreiheit und soziale Varianz ermöglicht. Freiheit, so Möllers, ist eine Praxis der Ergebnisoffenheit, die Prozesse ermöglicht, von denen unklar sein muss, wohin sie führen.

Suhrkamp Verlag (es), 343 Seiten, € 18,00

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9. Caroline Fourest: Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei

Die feministische Publizistin Caroline Fourest setzt sich anhand konkreter Vorkommnisse und Debatten mit einer gefährlich irrationalistischen Strömung der Identitätspolitik auseinander, die inzwischen auch an europäischen Unis die Hegemonie zu erlangen versucht.

Mark Feldon und Christoph Hesse, edition TIAMAT, 200 Seiten, € 18,00

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10. Hamed Abdel-Samad: Aus Liebe zu Deutschland. Ein Warnruf

Deutschland hat eine Tradition der Aufklärung – und eine der Inhumanität. Demokratie, Meinungsfreiheit, Pluralität haben uns die Alliierten gebracht. Es ist an der Zeit, sich dieser Werte bewusst zu werden und dafür einzustehen. Kaum jemand weiß besser als der in Ägypten aufgewachsene Hamed Abdel-Samad, welches hohe Gut die in Deutschland gelebte Liberalität ist. Er beobachtet aber seit Jahren eine toxische Tendenz des öffentlichen Klimas, die freie, streitbare Diskursethik, Grundlage jeder demokratischen Auseinandersetzung, gegen eine engstirnige und antiaufklärerische Gesinnungsethik einzutauschen.

Deutscher Taschenbuch-Verlag (dtv), 224 Seiten, € 20,00

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Besondere Empfehlung im Januar: Ursula Münch (Prof. für Politikwissenschaft Universität der Bundeswehr München und Direktorin der Akademie für Politische Bildung):

Torben Lütjen: Amerika im Kalten Bürgerkrieg. Wie ein Land seine Mitte verliert

Das Buch passend zum Amtswechsel in den USA: Warum hat sich ausgerechnet das Land, das „gefeit schien vor ideologischem Überschuss“ politisch gespalten? Lütjen analysiert u.a. die Veränderungen in der Medienlandschaft und weist nach, dass der Populismus tief in der US-amerikanischen politischen Kultur wurzelt. Und er scheut auch nicht vor dem überraschenden Vergleich zwischen Donald Trump und Wilhelm II. zurück. Auch wenn sich seine Befürchtung eines möglichen Bürgerkriegs wohl nicht bewahrheitet: Dieser Band erklärt, warum es Joe Biden und Pamala Harris kaum gelingen kann, die USA zu versöhnen.  (Ursula Münch)

Verlag wbgTheiss, 208 Seiten, € 20,00

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Die Jury: Tobias Becker, Der Spiegel; Kirstin Breitenfellner, Falter, Wien; Dr. Eike Gebhardt, Berlin; Daniel Haufler, Berlin; Prof. Jochen Hö-risch, Universität Mannheim; Günter Kaindlstorfer, Wien; Dr. Otto Kallscheuer, Sassari, Italien; Petra Kammann, FeuilletonFrankfurt; Jörg-Dieter Kogel. Bremen; Dr. Wilhelm Krull, The New Institute, Hamburg; Marianna Lieder, Freie Kritikerin, Berlin; Prof. Dr. Herfried Münkler, Humboldt Universität zu Berlin; Marc Reichwein, DIE WELT; Thomas Ribi, Neue Zürcher Zeitung; Prof. Dr. Sandra Richter, Deutsches Literaturarchiv Marbach am Neckar; Wolfgang Ritschl, ORF Wien; Florian Rötzer, Telepolis; Dr. Frank Schubert, Spektrum der Wissenschaft; Norbert Seitz, Berlin; Mag. Anne-Catherine Simon, Die Presse, Wien; Prof. Dr. Philipp Theisohn, Uni Zürich; Dr. Andreas Wang, Berlin; Michael Wiederstein, getAbstract, Luzern; Prof. Dr. Harro Zimmermann, Bremen; Stefan Zweifel, Schweiz

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